Ist das Meer gewaltiger, wenn man es hört oder wenn man es sieht?
- Feature -
von Judith Kuckart
SWR 2 2013
Im Ostseebad Boltenhagen findet jedes Jahr im März ein literarisches Festival statt, dessen Publikum Blinde sind. Ich bin hier als Erzählerin ganz richtig am Platz. Denn erzählen tut man eigentlich immer für Blinde. Menschen, die lesen, sind immer blind, sobald sie lesen. Sie werden von den Worten bei der Hand genommen und lassen sich eine Welt beschreiben, die sie nur durch den Erzähler kennen lernen. Ohne den Erzähler, wäre diese Welt im Dunklen geblieben.
Auszug aus dem Feature:
Autorin
Lydia, neben mir, auf dem blauen Sofa in ihrem großen Wohnzimmer, greift nach dem Rotwein, den sie für sich und für mich eingeschenkt hat, und fährt sich durch die Haare wie Romy Schneider oder Julia Roberts. Woher hat sie die Geste? Sie kann sie nicht abgeschaut haben. Lydia ist von Geburt an blind. Überall im Zimmer brennen Kerzen, und mir wird ängstlich zumute, wenn ich dran denke, dass sie, bevor ich gekommen bin, allein und ohne etwas zu sehen mit Streichhölzern in ihrer dunklen Wohnung herumgelaufen ist und mit dem Feuer gespielt hat, um Kerzen anzünden, die ihr gar nichts bedeuten.
Aber, mag sein, dem Gast. Mir.
Welche Vorstellung sie wohl von mir hat?
O-Ton
Autorin
Machst du dir, wenn du jemanden sprechen hörst, Gedanken, ob der geschminkt ist?
Lydia
Noralerweise nicht ….
Autorin
Was glaubt du, wie ich aussehe?
Lydia
Also, das ist mir nun wirklich so was von egal!