Tine Hoeg
Tour de Chambre
aus dem Dänischen von Gerd Weinreich
Literaturverlag Droschl 2022

Asta und Mai sind in der dritten Phase ihrer Jugend und blicken anlässlich einer Gedenkfeier für den damals in ihrem Studentenheim zu Tode gekommenen Mitbewohner August auf jene Zeit zurück, in der sie wurden, was sie jetzt sind. Damals wurde eine „Tour de Chambre“ zum tragischen Höhepunkt ihres an sich normalen studentischen Lebens. „Tour de Chambre“, das ist eine skandinavische WG- und Uni-Tradition. Jedes Zimmer steht für eine Nacht unter einem anderen Motto. Man zieht von Tür zu Tür und hofft auf kreative Trinkspiele – oder hofft eigentlich auf mehr. Mai war zu jener Zeit mit August zusammen und Asta ihm eng, eng, über die Liebe zur Poesie verbunden, so eng, dass Mai davon nie hätte etwas erfahren dürfen.

Was ist von all dem nach zehn Jahren geblieben?

Ein Zimmer mit Balkon hat für die Ich-Erzählerin Asta längst das Zimmer im Studentenheim ersetzt. Mai hat einen vierjährigen Sohn, ohne Vater dazu. Asta schreibt an ihrem zweiten Buch und kümmert sich manchmal um Mais kleinen Bertram. Und August, der ist schon lange tot.

Tine Hoegs Roman ist inhaltlich kein ungewöhnlicher. Aber er ist es formal. Nach jeder Idee, jeder Sinneinheit muss die Autorin die Enter-Taste gedrückt haben: Sprung, Zeilenumbruch, neuer Absatz. Bei jedem Satz, den die Erzählerin in Position bringt, muss neu abgeleitet werden: Wer sagt das, und wo? Erleben und Erinnern stehen sich auf Augenhöhe gegenüber. Sog und Rhythmus entstehen durch das schnelle Klappen der Synapsen im Kopf der erzählenden Tine Hoeg. Tine Hoeg ist 1985 geboren, studierte Dänisch und Philosophie und lebt jetzt in Kopenhagen.  Das situative Erzählen der Tine Hoeg, die mit diesem, ihrem zweiten Buch auf den Bestsellerlisten in Dänemark landete, ist dem Theater verwandten, und doch ist es kein Theaterstück. Denn Theaterstücke lesen zu müssen ist meist eine anstrengende Sache. Tour de Chambre hingegen ist weder ein anstrengender noch ein schwieriger oder sperriger Text, sondern einer, der sich mit Wärme und Unsicherheit in Vergangenes und Gegenwärtiges hineintastet, bis er aneckt.