Matthias Nawrat
Der traurige Gast
Rowohlt Verlag 2019
Er ist eben ein Schriftsteller, der traurige Erzähler in Nawrats Buch. An der Hand seines Autors wandert er durch Berlin. Aus Tagebucheinträgen muss das Gerüst des Romans entstanden sein. Überall, in den unterschiedlichsten Milieus macht der Erzähler Bekanntschaften. Im alten Westberliner Hotel Savoy, in der polnischen Diaspora, an seiner Tankstelle, beim arabischen Friseur, an der eigenen Haustür. Unterschiedlichste Menschen reichern mit ihren Lebensberichten seine Tageseindrücke an und werden so zu Romanfiguren. Mit dem geliehenen Ohr vorneweg verschwindet der traurige Gast — mal gern, mal weniger gern — in den Erzählungen der anderen. Matthias Nawrat, Dichter, aber auch Biologe, weiß, dass Erinnertes, Erzähltes und Erlebtes gehirnphysiologisch fast das gleiche sind. Dass beim Zuhören die Geschichten eines Fremden sich einschreiben in die Erinnerung, als seien sie ein Stück eigener Vergangenheit. Nach gut zwei Dritteln des Buchs fängt das Attentat vom Berliner Breitscheidplatz am 20. Dezember 2016 an, eine Hauptrolle im Leben des traurigen Gasts zu spielen. Ein LKW ist auf dem Weihnachtsmarkt bei der Gedächtniskirche in die Menge gefahren. Am Steuer: ein „Soldat des islamischen Staats“. Zwölf Menschen sind tot. Eine Verlorenheit, die ansteckend ist wie eine Krankheit zum Tod, geht ab jetzt von Nawrats Text aus. Nicht nur der Erzähler, sondern auch seine Zuhörer, erahnen beim Lesen die kosmische Kälte, die auf jeden wartet. Und kein Erzählen kann dieses Gefühl rückgängig machen?