Michael Köhlmeier
Das Philosophenschiff
Hanser Verlag 2024

Eine Hundertjährige bittet den Schriftsteller, ihr Leben aufzuschreiben. Auf den ersten Blick hat eben diese Rahmenhandlung etwas Schmökerhaftes und scheint für die Zeit des Lesens nach einem bequemen Ohrensessel Ausschau zu halten. Doch es kommt anders. Die Geschichte der Anouk Perleman-Jacob und die Art wie Köhlmeier sie schreibt, verdichtet und fiktionalisiert, hat aus Lebensstoff, der sich an historischen Eckdaten orientiert, ein poetisches Buch der Unruhe gemacht.

In Sankt Petersburg geboren, erlebt Anouk als Kind den bolschewistischen Terror. Mit den Eltern und einer Handvoll weiterer Intellektueller wird sie auf Lenins Befehl hin 1922 mit einem „Philosophenschiff“ ins Exil geschickt – in der ihnen zugewiesenen dritten Klasse. Nachdem dieses Schiff fünf Tage und Nächte lang auf dem Finnischen Meerbusen die Fahrt unterbrochen hat und alle an Bord ihre Liquidation fürchten, wird ein letzter Passagier an Bord gebracht. Er reist erster Klasse und heißt Lenin. Dies ist ein echter Cliffhänger auf S. 98 des Romans. Doch die Seiten zuvor sind nicht minder spannungsvoll erzählt und auch die folgenden 123 Seiten nicht.

Das Erzählen der Frau Perleman-Jacob treibt den Schriftsteller irgendwann dazu, um eine Pause zu bitten. Er geht in die Nationalbibliothek. Was er gehört, genauer, was er vernommen hat, will er überprüfen: Ist das wirklich so geschehen? Oder gilt eher etwas anderes? Dass nämlich Erfinden nicht Lügen ist, auch wenn geschichtsträchtige Namen im Text auftauchen?

Gegen Ende der vielen Begegnungen, in denen die Frau erzählt und der Mann notiert, oder manchmal auch für sie kocht, sagt Frau Perleman-Jacob: Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt, nicht die richtige Wahrheit und weniger als ein bisschen Wahrheit. Und er sagt darauf nur: Frau Perleman-Jacob, sie sind hundert Jahre alt und lügen? Hinter allen Begegnungen in diesem wunderbaren Romans DAS PHILOSOPHENSCHIFF steht die Frage nach den Grundstrukturen des Terrors, zu dem bis heute noch das starre Gesicht derer gehört, die unbedingt etwas fühlen wollen, wenn sie befehlen: Liquidiert ihn. Weil eine „große Sache“ pervertiert ist? Ein Grund hat viele Gründe.