Joseph Mitchell
McSorley’s Wonderful Saloon, New Yorker Geschichten
Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Koch und Andrea Stumpf Diaphanes Verlag, Zürich 2011

Joseph Mitchell: Journalist in extravaganter Kleidung. Er wäre lieber eines gewaltsamen Todes gestorben, als mit einem schlechten Satz erwischt zu werden. So wurden seine Reportagen zu Kurzgeschichten, nicht weil der Mann Schriftsteller sein wollte, sondern weil er einer ist. Joseph Mitchell, der Mann mit dem genauen Blick und den noch genaueren Ohren starb 1996. Er war 1929 von North Carolina nach New York gekommen. Da war er einundzwanzig. Die Herkunft aus den Südstaaten führt er selber als einen wichtigen Einfluss für sein Schreiben an, das er in zwei Sätzen zusammenfasst: „ Mein Thema waren nicht die kleinen Leute. Sie sind so groß wie du und ich, ganz egal, wer wir sein mögen.“
Seine Reportagen aus den Jahren zwischen 1938 bis in die Fünfziger, die er für den New Yorker schrieb, sind jetzt auf Deutsch erschienen. Es sind Porträts über Menschen, auf die selten jemand genau schaut, geschweige denn dass einer den Scheinwerfer auf sie richten würde. Joseph Mitchell geht in die Hafen- und Einwanderungsviertel, er geht in die Kneipen. Er geht zu den Verrückten, den Predigern und Bettlern, zu den Zigeunern und auch zu Mazie Gordon, die an der Kinokasse des Venice Theaters in der Park Row sitzt, da wo die Bowery beginnt, da wo auch McSorley’s ist, die älteste Kneipe der Stadt, der Saloon, der Mitchells New Yorker Geschichten den gemeinsamen Familiennamen gegeben hat.
Eines Tages, dreißig Jahre vor seinem Tod, hört Mitchell auf zu schreiben, kommt aber noch jeden Tag in die Redaktion. Man hört ihn sogar tippen, hinter verschlossener Tür. Seltsam ist meine Leseerfahrung mit diesen in dem Band „McSorley’s Wonderful Saloon“ versammelten Geschichten. Das Buch ist 416 Seiten dick, aber eigentlich ist es noch viel dicker, wenn man es genau liest. Denn die Texte, die Mitchell in den letzten dreißig Jahren seines Lebens nicht mehr geschrieben hat, sind mit dabei, unsichtbar, aber lesbar, wenn man genau hinschaut und genau hinhört, wie es der Autor einen gelehrt hat.