Georgi Gospodinov
Physik der Schwermut
Droschl Verlag 2014
Der Titel ist mehr als ein Versprechen, ist eine kühle Verheißung, in der sich – nur durch ein DER verbunden – Seele und Naturwissenschaften auf engstem Raum zu paaren versuchen. Gospodinovs Roman „Physik der Schwermut“ vereinigt Geschichten, Listen, Dokumente, Mythen, Märchen, physikalische Überlegungen, Zitate und Erinnerungen, auch sehr persönliche, zu einem ständig sich verändernden Bild des vergangenen Jahrhunderts. Was man ihm nicht erzählt, denkt er sich mit großer Empathie aus, und er kann sich mit dieser Kraft des Herzens oder Seele sogar erinnern an jenen Zaun aus Minuten, hinter dem die Nichtgeborenen sitzen und beim Anblick einer Welt, auf der sie noch nicht sind, den Kopf einziehen oder aufatmen.
Schwermut ist das Grundthema in Gospodinovs Buch. Er erzählt von der Schwermut in seinem Land Bulgarien, von der Schwermut in Europa, ein Thema, das sich nicht gut verkauft, es sei denn, man weiß und will auch darum wissen, dass wir in einer Welt leben, in der wir, vielleicht, des Nachts noch träumen, wir hätten das Wichtigste im Leben vergessen, und wenn wir dann morgens aufwachen, haben wir vergessen, was das Wichtigste war.
Wenn Gospodinov, geboren 1968 in Bulgarien, erzählt, entsteht ein clandestiner Klartext, den nur versteht, wer dazu gehört oder dazu gehören will. Nein, man muss für diese Texte nicht gebildet sein. Man lernt mit ihnen das Ahnen, das Zusammenspüren von Vergangenheit und Zukunft.
„Physik der Schwermut“ hat mich als Mensch, der lebt , liest, schreibt, einmal mehr davon überzeugt, dass es nicht gut gemachter Fiktion bedarf, damit ich in den Sog eines Buches gerate. Was Gospodinov erzählt, stimmt, hat fragile Gültigkeit. Beim Erzählen verdrängt er nicht Langeweile, sondern er schenkt mir Zeit. Ein Zeit, die ich so nicht gehabt hätte.