Albertine Sarrazin
Astragalus
aus dem Französischen von Claudia Steinitz, mit einem Nachwort von Patti Smith, Hanser Verlag Berlin 2013

Wie ich sie mir Albertine Sarrazin vorstelle? Jedes Mal, wenn sie vor dem Spiegel den halbmonddicken Lidstrich nachzog oder sich eine Gitane anzündete, entwarf sie zu viele Bilder von sich selbst, glaube ich. Die Hauptfigur ihres Romans ASTRAGALUS ist Anne, neunzehn. Anne sitzt sieben Jahre ein, wegen eines bewaffneten Raubüberfalls. Eines Nachts springt sie von der Gefängnismauer, verletzt sich am Knöchel schwer und wird von einem Mann namens Julien aufgelesen. Ein Ex-Häftling, das riecht Anne sofort. Auf dem Weg zu seinem Motorrad, das in einer Nacht der dunklen Bäume auf sie wartet, klammert sie sich auf dem Rücksitz an ihn. Ein neues Zeitalter beginnt, sagt sich Anne.
Dass ein neues Zeitalter begann, hatte wohl auch Albertine Sarrazin gespürt, als sie wie ihre Heldin tatsächlich von der Gefängnismauer sprang. Albertine, oder Anne, egal, beide sind sie Findelkind aus Algier, werden Adoptivkind eines ältlichen französischen Ehepaars, werden aufsässig und später abgegeben in einer Erziehungsanstalt in Marseille, aus der Albertine mitten im mündlichen Abitur per Autostopp nach Paris flieht, wo sie – Vorbild für Anne – von Ladendiebstahl und Prostitution und den tausend Blicken auf der Strasse lebt, die sie liebkosen, bis Albertine, in der bereits Anne steckt, eines Tages bewaffnet eine Boutique überfällt und sieben Jahre dafür in den Knast geht, als Insassin 504, die auffällt wegen ihrer hohen Intelligenz und ihrer ebenso hohen moralischen Verwerflichkeit. Am Karfreitag 1957 springt Nummer 504 von der Gefängnismauer und landet nach zehn Metern in den Armen jenes Mannes, der die Leidenschaft und der Weggefährte ihres kurzen Lebens werden wird, Julien. So hieß er im Leben für Albertine. So heisst er im Roman ASTRAGALUS für Anne. Trotzdem, dies ist kein autobiografisches, sondern ein persönliches Erzählen. Genau auf dieser feinen Grenze balanciert der Text. Nein, kein Text, ein Trapezkünstler, der weiss, das er eines Tage abstürzen wird. So entsteht Literatur? Soviel Licht, soviel Licht im Dunkeln?
Albertine Sarrazin starb mit 29 Jahren als erfolgreiche Romanautorin.