Michael Ondaatje
Divisadero
Hanser Verlag 2007

Der Farmer kommt mit der neugeborenen Tochter Anna allein aus dem Krankenhaus zurück. Seine Frau ist im Kindbett gestorben wie die Mutter der kleinen Claire. Also hat er Claire, den Wechselbalg, auch gleich mitgenommen. Jetzt ist er Witwer mit drei Kindern, denn daheim wartet noch der Nachbarssohn Cooper, Vollwaise. Er war vier, als er als einziger ein Gewaltverbrechen überlebte, das seine Familie auslöschte. Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen. Alles, was gerade noch gesagt ist, ist auch gleich wieder etwas anderes, und was diese Welt von „Divisadero“ in ihrem Innersten zusammenhält, das ist die Schönheit von Michael Ondaatjes Sprache. Sie ist so kräftig und schön wie das Gesicht von Cooper, in das sich seine Schwester Anna verliebt, die nicht seine richtige Schwester ist. Coopers Gesicht hat auf Fotos keine deutlichen Züge, keine Physiognomie, die Ondaatje in feste Sätze gefasst hätte. Die Geschwister Anna und Cooper, die mit Claire zusammen ein dreiteiliger Paravent sind, jeder für sich eine Einheit doch mit den anderen beiden zusammen ein Ding voller Überraschungen und Schattierungen, erwischt der Alte bei der Liebe. Schuld ist der warme Regen. Der Regen macht melancholisch und weckt die schmerzliche Lust auf Liebe, die einen anfällt, wenn Glücklichseinwollen und Traurigseinmüssen streiten, bis man selber nicht mehr Mensch ist, sondern Wetter. Als der Alte die beiden erwischt, schlägt er Cooper die Seele taub, den Körper fast tot, und Anna rammt dem rasenden Vatertier eine Glasscherbe tief in den Rücken, was ihm für immer das Herz bricht. Die Szene ist anderthalb Seiten kurz, aber hat mich verschreckt, aber ebenso mit Anna, Cooper, Claire und den Alten für den Rest des Buches verbunden. Ich möchte mit ihnen bis zur letzten Seite und noch weiter gehen. Doch während Ondaatje seine Geschichte Divisadero fortschreibt, lässt die frühen Fäden fallen und springt hinein in eine andere Geschichte, rüber nach Frankreich, zu anderen Schicksalen. Schon klar, so eine Komposition, die diese biographische Wehmut bei mir anrichten kann, schreibt sich nicht schlicht an einem Strang entlang fort. Nach jedem Komma wartet die nächste Überraschung. Trotzdem, ich habe erst Anna und dann Cooper vermisst, während ich weiterlas.
Nachdem der Alte die Liebenden Cooper und Anna auseinander prügelte, und damit aus der wichtigsten Zeit ihres Lebens vertrieb, floh Anna, um viele, viele Jahre später in der Gegend von Toulouse und auf den Spuren eines Dichters namens Lucien Segura, berühmt am Anfang der vorigen Jahrhunderts, anzukommen, wo sie dessen Lebensspuren zu einem Bild zusammenschiebt und bei dieser Montagearbeit sich selber ausbessert, – sich selber befragt, ohne laut Antwort zu geben, bis eines Tages nicht ein warmer Regen, sondern ein nächster Mann über die Wiese herüber in ihre Einsamkeit hinein geschlendert kommt. Er ist ein Sänger, ein Zigeuner, mit Kräutern in den Hosentaschen. Er fängt an zu erzählen. Sie fängt an zu erzählen. Erzählen heilt.
Michael Ondaatje, der Autor von Romanen wie „Der englische Patient“, „Buddy Boldens Blues“ oder „Anils Geist“, ist ein Stimmenarrangeur, ein Bildermaler, ein Choreograph der Gefühle. Er liebt den Jazz. Unsentimental, mit viel Kraft setzt er seine Stofffülle in einem eigenen Zeit-und-Raum-Schema zusammen, bis Sequenzen sich einschreiben, als seien sie ein Stück von einem selbst, das man noch nicht gelebt hat. Längst habe ich begriffen, ich muss mich hinsetzen und das Buch noch einmal lesen, wenn ich Anna und Cooper wiedertreffen will. Ihre Liebe ist bis zur letzten Seite da. Sie ist da in der Form.